Interview mit Carla Norton – Und nachts die Angst

Und nachts die Angst von Carla Norton1. „Und nachts die Angst” ist Ihr erster Thriller. Wie kam es, dass Sie als sehr erfolgreiche True-Crime-Autorin das Genre gewechselt haben?

Eigentlich wollte ich schon immer einen Roman schreiben, aber die Umstände brachten mich zunächst in Richtung Non-Fiktion. Als ich in Tokio als Mitherausgeberin des japanischen Reader´s Digest gearbeitet habe, bearbeitete ich unter anderem die Memoiren eines KGB-Agenten, der Japan ausspionierte und sich dann in die USA abgesetzt hatte.

Die englischsprachigen Zeitungen waren zu dieser Zeit voll von einem Entführungsfall, der sich unweit meiner alten Heimatstadt in den USA zugetragen hatte: Eine junge Frau behauptete, sie sei gekidnappt und sieben Jahre lang gefangen gehalten worden. Der Fall faszinierte mich und so ging ich zurück nach Kalifornien, um über den Prozess zu berichten. In Kooperation mit dem Staatsanwalt habe ich dann „Die Leibeigene“ geschrieben. Das war mein erstes True-Crime Buch.

„Und nachts die Angst“ ist mein Thrillerdebüt, aber ich habe bereits fünf Romane geschrieben. Sie sehen, es hat viele Versuche und viele Jahre des Lernens gebraucht, bis die Sterne für dieses Buch endlich günstig standen.

2. Hat Ihr Beruf als Gerichtsreporterin Sie zum Schreiben von „Und nachts die Angst” inspiriert? Auf welche Weise?

Lassen Sie mich zunächst klarstellen, dass ich keine professionelle Gerichtsreporterin im eigentlichen Sinne bin, obwohl ich später für die Los Angeles Times noch über einen weiteren Fall berichtete, während ich für mein zweites True-Crime-Buch „Unbarmherzige Samariterin“ recherchierte.

Eigentlich kommt die Inspiration von der Arbeit an meinem ersten True-Crime-Buch „Die Leibeigene“ über die Entführung einer jungen Frau und ihre sieben Jahre dauernde Gefangenschaft. Die Geschichte hat mich einfach nicht mehr losgelassen und ich habe ständig darüber nachgedacht, wie man sie in einen Thriller verpacken könnte.

Viele Thriller sind testosterongesteuert! Ich wollte dagegen eine weibliche Protagonistin ohne außergewöhnliche Stärke oder Training, eine junge Frau, die weder Spionin noch Polizistin ist. Eine Überlebende, die nicht von ihrem Job angetrieben wird, sondern von ihren inneren Dämonen. Jemand, der gleichzeitig traumatisiert und smart ist. Das ist Reeve LeClaire.

3. Was fordert Sie als Schriftstellerin mehr heraus: Sich neue Figuren auszudenken oder die realen Personen aus Ihren True-Crime-Büchern zu beschreiben?

Schwierige Frage. Bei True-Crime muss man sehr darauf achten, der Gerechtigkeit und der Wahrheit Genüge zu tun – und gleichzeitig muss man die Privatsphäre der Beteiligten achten und vorsichtig mit den gesetzlichen Vorgaben sein. Man möchte ja schließlich nicht verklagt werden. Noch dazu haben reale Personen ihren eigenen Kopf und machen nicht immer genau das, was man von ihnen möchte.

Sich Figuren auszudenken kann sehr viel Spaß machen, aber wenn sie nicht richtig klingen, ist es immer die alleinige Schuld des Autors und daher ist die Kritik an einem solchen Werk auch immer viel persönlicher.

4. Wie haben Sie für „Und nachts die Angst” recherchiert? Gibt es etwas mit realem Hintergrund im Roman?

Ich bin zwar keine Expertin, aber ich bin von Psychologie total fasziniert. Von Erkrankungen wie der Posttraumatischen Belastungsstörung, die nach Entführung und Gefangenschaft auftreten kann, habe ich das erste Mal gehört, als ich für „Die Leibeigene“ recherchiert habe. Einige Elemente dieses Falles habe ich in den Roman einbezogen und sie mit weiteren Recherchen unterfüttert.

Da ich von Natur aus Konflikte lieber umgehe, ist über Gewalt zu schreiben für mich ziemlich schwierig. Und mit Handfeuerwaffen bin ich noch dazu sehr ungeschickt. Also fuhr ich zu einem Schießplatz und habe die Leute dort mit Fragen zu verschiedenen Waffen gelöchert, um dem Buch mehr Wahrheitsgehalt zu geben. Und hier ist eine interessante Fun-Fact: Jeffrey Deaver ist ein hervorragender Scharfschütze – kein Witz!

5. Sie erzählen die Geschichte eines zutiefst traumatisierten Mädchens, das ihren schlimmsten Albtraum durchleben muss, um am Ende ein neues Leben beginnen zu können. Ist das Ihre fiktive Rache für all die realen Opfer von Entführungen?

Interessante Frage. Und ja, auf gewisse Weise stimmt das. Das Buch wurde sozusagen geboren aus einem heißblütigen Wunsch nach Gerechtigkeit und einem „Was wäre wenn“-Szenario: Was, wenn ein Opfer langer Gefangenschaft zu einer Art Selbstjustiz greift?

Meine Hauptperson mag vielleicht seelisch zerstört sein, aber sie ist selbstbewusst und klug genug zu erkennen, dass sie die Kontrolle über ihr eigenes Leben zurückgewinnen muss. Und sie wird angetrieben von einer großen inneren Wut, was meinen eigenen Standpunkt verdeutlicht. Das ist das Schöne am Thriller: Die Geschichten können facettenreich und überraschend sein, aber sie sind fast immer bewegt von einem großen Verlangen nach Gerechtigkeit.

6. Es gibt viele verschiedene Gründe für Entführungen. Warum haben Sie gerade das Thema Triebtäter für Ihren ersten Thriller gewählt?

Warum werden Frauen entführt? Sex ist oft die Antwort. Aber warum fühlt sich jemand gezwungen, eine Frau gefangen zu halten und wie kann das Opfer das überleben? Ich bin selbst überrascht von meiner Faszination für dieses Thema, aber aus irgendeinem Grund interessiere ich mich sehr für die Themen Identität und Kontrolle.

7. Ihr Name wird in einer Reihe mit Jilliane Hoffman, Chevy Stevens und Karin Slaughter genannt. Was ist Ihr persönliches Rezept für einen kaltblütigen Thriller?

Da bringen Sie mich aber in beste Gesellschaft, danke. Ich denke, in diesem Genre arbeiten wir alle mit denselben Elementen: Ein interessanter und ungewöhnlicher Protagonist, ein schlauer und undurchschaubarer Verbrecher und eine fesselnde Geschichte mit jeder Menge unvorhersehbarer Wendungen. Klingt einfach, oder?

8. Was bedeutet Ihnen dieses Buch persönlich? Was mögen Sie daran am liebsten?

Das ist schwierig. Natürlich sitzt Reeve immer auf meiner Schulter und flüstert mir ins Ohr. Sie ist mein jüngeres, stärkeres Alter Ego. Und die Schauplätze in San Francisco und Nordkalifornien basieren auf realen Orten, an denen ich gewohnt habe. Allerdings habe ich mir dafür andere Namen ausgedacht, um ein bisschen mit der Geografie der Region zu spielen.

Es gibt viele Bilder und Metaphern in dem Roman, die mir persönlich etwas bedeuten und es gibt viele Szenen, die ich liebe, aber ich will jetzt nicht vorweggreifen.

Einige von den Elementen, die ich bewusst geschrieben habe, könnten von denen übertrumpft worden sein, die ich unbewusst geschrieben habe. Umso spannender wird es zu sehen, wie die Leser mein Buch aufnehmen werden. Allerdings verrate ich nicht zu viel, wenn ich Ihnen sage, dass ich glücklich darüber bin, wie die Leser durch die ersten zwei Sätze sofort in die Geschichte finden: „Ihr Name war schon so lange aus den Schlagzeilen verschwunden, dass niemand mehr nach ihr suchen würde. Zuversichtlich steckte er daher zum letzten Mal den Schlüssel ins Schloss.“ Da gibt es keine Zweideutigkeiten. Du weiß sofort, wer beteiligt ist, und was passiert.

9. Wenn Sie nachts eine dunkle, verlassene Straße entlanggehen, haben Sie dann Angst?

Das kommt darauf an. Ich habe für einige Jahre in Tokio gelebt und hatte niemals Angst, alleine irgendwo hinzugehen, egal zu welcher Uhrzeit. Es ist ein sicheres Land. Aber in dunklen Gassen, da werde ich schon nervös. Und wenn ich in der Nacht ein gruseliges Buch lese, dann spielt es keine Rolle, ob ich komplett sicher in meinem Haus eingeschlossen bin, dann bringt jedes kleinste Knarzen und jeder kleinste Schatten mein Herz zum Rasen.

10. Ihr nächstes Buch – True-Crime oder Thriller?

Thriller! Momentan arbeite ich an einer Fortsetzung zu „Und nachts die Angst“ und Sie glauben kaum, was … Ups! Für den Moment ist es wohl besser, ich behalte dieses Geheimnis erst einmal für mich.

Frau Norton, vielen Dank für das Interview!

Es war mir eine Freude!